Punktehysterie und falsche Propheten

"Rein eingeschenkt" vom Weinmanager - Folge 6

Eine Frage, die sich viele Weinliebhaber sicher schon einmal gestellt haben: Wie konnte es ein Robert Parker - noch dazu als US-Amerikaner - schaffen, dass die ganze Weinwelt auf sein "Kommando" hört und dass sich so viele Konsumenten bei ihrem Weineinkauf nur noch an seinen Punkten orientieren. Natürlich war und ist er zunächst einmal ein exzellenter Verkoster - aber das sind viele andere auch. Damit allein lässt sich das "Phänomen" Parker nicht erklären. Hier meine subjektive "Abrechnung" mit der allgemeinen Punktehysterie und falschen Propheten.

Der amerikanische "Weinpapst" gilt als der "Erfinder" des 100-Punkte-Systems, das heute bei der Weinbewertung am gebräuchlichsten ist. War es nun ein genialer Schachzug von Robert Parker, das 100-Punkte-System zu installieren, oder hatte er einfach nur das Glück, damit genau den richtigen Nerv zu treffen? Ist er letztlich der Urheber der Punktehysterie, die wie eine Seuche um sich gegriffen hat? Oder war sie latent längst vorhanden und kam von ihm nur der letzte Anstoß zu ihrem Ausbruch?

Wie dem auch sei: Tatsache ist, dass das Parker-System von vielen anderen übernommen wurde, die auf der Erfolgswelle mit schwimmen wollten, und dass es zum neuen Standard für die Weinbewertung wurde. So tummeln sich in der heutigen Weinszene selbst ernannte  „Wein-Gurus“ und "falsche Propheten" in größerer Zahl als je zuvor. Und viel zu viele Weinliebhaber laufen ihnen willig hinterher - so wie einst die Kinder dem Rattenfänger von Hameln.

Der "Wildwuchs" ist mittlerweile so groß, dass jeder Händler für fast jeden noch so banalen Wein einen Verkoster zitieren kann, der ihn hoch bewertet hat. Dabei schrecken sie vor nichts zurück und verhelfen in sogar einem Luca Maroni Popularität und dem Ruf, angeblich einer der größten Weinexperten Italiens zu sein. Bei kritischen und kundigen Weinliebhabern dagegen ist Luca Maroni vor allem dafür bekannt, charakterlose Mainstream-Önologensäfte gerne mit Höchstbewertungen zu überschütten und geradezu inflationär die "Besten Weine Italiens" zu küren. Aber selbst hier gilt: Man muss sein 99/99-Punkte-System nur richtig anwenden - was bedeutet, einen weiten Bogen um die von ihm hoch bewerteten Weine zu machen. 

Meine Kritik richtet sich nicht grundsätzlich gegen eine Bewertung von Weinen mit Punkten, sondern nur gegen die heutige Praxis. Wenn man – wie es die bekannten Verkoster tun – alle Weine bei der Punktevergabe quasi in einen Topf wirft, kann das System nicht funktionieren. Die Stunde der Wahrheit schlägt spätestens bei Quervergleichen unterschiedlicher Weine, die eines verbindet: die gleiche Punktzahl. Die Schwächen des Systems treten umso deutlicher zu Tage je differenzierter die Punkteskala ist.

Es mag ketzerisch klingen, aber genau aus diesem Grund halte ich das von Parker erfundene und heute von vielen Verkostern adaptierte 100-Punktesystem nicht für die beste, sondern die schlechteste Punkteskala für die Weinbewertung. Sie gaukelt höchste Genauigkeit vor, ist in Wirklichkeit aber extrem fehleranfällig. Die menschliche Nase ist für ein so feines Raster einfach nicht geschaffen. Wer auf einer 100-Punkte-Skala zuverlässig differenzieren kann, ob ein Wein z. B. 89, 90  oder vielleicht doch 91 Punkte wert ist, bei dem muss an Stelle des normalen menschlichen Riechorgans ein Hightech-Präzisionsmessgerät sitzen. Hört die Weinwelt also auf „Mutanten“ oder ist sie einfach nur der Bewertungs- und Rankingsucht verfallen? 

Eine Verkostung mit dem Thema 90 Parker-Punkte +/-1“ (wie schon mehrfach von mir praktiziert) wird jedem Punktehörigen die Augen öffnen. Da steht dann plötzlich der einfach gestrickte, leicht marmeladig-überreife Spanier für unter 10 Euro mit gleicher Punktzahl neben dem eleganten, bestens strukturierten Bordeaux Grand Cru Classé für 100 Euro. Spätestens dann kommen Zweifel an den Bewertungen des „Weinpapstes“ und  seiner Gefolgsleute auf, weil die beiden Weine qualitativ nicht einmal annähernd auf Augenhöhe sind. Und es stellt sich die Frage, ob die Punktzahlen absolut für alle Weine gelten - oder ob 90/100 Punkte für einen Bordeaux eine andere Bedeutung haben als für einen Wein aus La Mancha. Vor einer eindeutigen Antwort auf diese Frage hat Robert Parker übrigens immer gedrückt.

Wo ist also der objektive Nutzwert des Parker-Systems? Am meisten profitieren Weingüter und Händler davon, aber wo ist der Mehrwert für den Weinliebhaber am Ende der Vermarktungskette? Aus diesen Überlegungen heraus habe ich ein alternatives, nachvollziehbares und nachhaltiges 20-Punkte-System entwickelt, das maximalen Nutzwert bringt. Mehr dazu wird es in der März-Ausgabe von "Rein eingeschenkt" geben.

Mein persönliches Fazit: Wein wird heute aus meiner Sicht viel zu oft auf nüchterne Punkte als alles entscheidendes Verkaufsargument reduziert. Doch das ist genuss- und spaßfeindlich und wird einem Kulturgut und Kultgetränk, wie es der Wein seit Jahrhunderten ist, nicht annähernd gerecht. Es ist doch viel schöner, emotional im Wein zu schwelgen, über ihn zu philosophieren und ihm ganz subjektiv zu begegnen. Alle Punkte- und Etikettentrinker tun mir leid: Sie werden den Wein nie verstehen und nie in seine „Geheimnisse“ eindringen.

Manfred Hailer, im Februar 2024

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Weinmanagement
Manfred Hailer

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